70.000 Euro Schmerzensgeld – Tumor übersehen
Inhalt
Medizinrecht: Der Orthopäde hat einen Knochen-Tumor übersehen (Osteosarkom)
Erfahren Sie in diesem Beitrag, wie ein Orthopäde einen hochaggressiven Tour übersehen konnte, wie die Behandlungsfehler aufgedeckt wurden und wieviel Schmerzensgeld das Gericht ausgeurteilt hat. Wenn Sie insgesamt mehr zum Thema verzögerte Krebstherapie lesen wollen, klicken Sie auf den Link
Doch was hat die Patientin überhaupt dazu bewogen, sich beim Arzt vorzustellen? Die Patientin machte aufgrund eines geschwollenen Oberschenkels und starken Schmerzen einen Termin in einer orthopädischen Praxis aus. Der behandelnde Orthopäde ging hierbei von einem Bluterguss aus, welcher sich infolge einer Sprunggelenksverletzung gebildet hätte.
Nachdem die Schmerzen über einen Zeitraum von mehreren Monaten immer mehr zunahmen, veranlasste der Orthopäde eine MRT- Untersuchung. Diese brachte einen bösartigen Tumor zum Vorschein, welcher kurz darauf operativ entfernt werden musste. Leider kam diese Operation schon zu spät, denn wenige Wochen später wurde eine Metastase gefunden.
Die Frau starb, nach zahlreichen Operationen und Chemotherapien, nur acht Monate später. Das OLG Frankfurt hat den Erben ein Schmerzensgeld von 70.000 € zugesprochen.
Wie konnte der Orthopäde den Tumor übersehen?
Die geschädigte Frau stellte sich erstmals 2010 bei ihrem Hausarzt wegen undefinierbarer Schmerzen in ihrem rechten, bereits angeschwollenen Oberschenkel vor. Dieser überwies sie sofort zu einem Orthopäden.
Erste Untersuchungsbehandlung
Im ersten Termin ließ der Orthopäde eine Röntgenaufnahme von dem Oberschenkel der Frau machen. Er diagnostizierte eine Prellung des Oberschenkels und einen abgekapselten Bluterguss (Hämatom). An einen Tumor hat er gar nicht gedacht.
Zweite Untersuchungsbehandlung
Nachdem sich der Zustand der Frau nicht verbessert hatte, suchte sie den Orthopäden erneut auf. Während dieser Behandlung wurde eine Ultraschalluntersuchung des Oberschenkels durchgeführt. Der Orthopäde hielt auch hier die Schwellung weiterhin für einen Bluterguss. Daraufhin verschrieb er der Patientin eine entzündungshemmende und durchblutungsfördernde Salbe. Warum wurde der Tumor übersehen? Bereits hier wäre eine MRT-Untersuchung notwendig.
Dritte Untersuchungsbehandlung
Einen Monat später hat sich die gesundheitliche Situation der Patientin weiter verschlechtert. Sie schilderte dem Orthopäden bei einem weiteren Untersuchungstermin extreme Schmerzen. Während der Untersuchung stellte der Arzt „feste Strukturen innerhalb der Schwellung“ fest und verschrieb der Frau deshalb Schmerzmittel. Ein MRT ist bei einem solchen Befund Pflicht. Erfolgt sie nicht, wird der Tumor übersehen und kann weiter wachsen. Bei einem aggressiven Osteosarkom kommt es dann schnell zu Metastasen.
Vierte Untersuchungsbehandlung
Auch zwei Wochen später haben sich die Beschwerden der Frau trotz der Einnahme des Schmerzmittels nicht verbessert. Nachdem der Orthopäde eine Zunahme der Schwellung feststellen konnte, veranlasste er endlich eine MRT-Untersuchung.
Gut zu wissen: Die Magnetresonanztomographie (MRT) ist ein Verfahren, das mit Magnetfeldern und Radiowellen Schnittbilder von Weichteilen des Körpers, wie Organen, erzeugt.
Diese MRT-Untersuchung ergab eine 14 x 6 x 11 cm tumoröse Raumforderung.
Gut zu wissen: Der Begriff der Raumforderung ist vergleichbar mit dem Begriff des Tumors. Bei einem Tumor handelt es sich um eine Gewebeschwellung, die entweder gutartig oder bösartig sein kann.
Folgen des Behandlungsfehlers: übersehener Tumor
Operation zur Entfernung des zu spät erkannten Tumors
Die Frau wurde aufgrund dieses Befundes sofort in ein Krankenhaus eingewiesen. Dort wurde durch weitere diagnostische Maßnahmen ein undifferenziertes, mäßig pleomorphes Sarkom festgestellt, wobei es sich um eine seltene, bösartige und sehr aggressive Krebsart handelt.
Gut zu wissen: Bösartige Zellen können sich mit Blut oder Lymphflüssigkeit im Körper verteilen und somit an fast beliebigen Stellen im Körper unkontrollierbar wuchern. Dieses Wuchern kann neben Funktionsstörungen und Knotenbildung zur vollständigen Zerstörung eines Organs führen.
Der Frau wurde daraufhin das geschädigte Gewebe operativ entfernt. Hierbei musste ein sehr großer Teil der Oberschenkelmuskulatur entfernt werden. Zudem musste die geschädigte Frau eine Bestrahlungstherapie über sich ergehen lassen.
Metastasen nach Tumorentfernung
Bereits wenige Monate nach dem ersten Befund wurden Krebsgeschwülste in der Lunge (pulmonale Metastase) gefunden, die ebenfalls operativ entfernt werden mussten.
Gut zu wissen: Eine Metastase ist eine besondere Art von Tumor, der sich durch Verschleppung von kranken Zellen vom Ursprungsort an entfernt gelegenen Körperstelle bildet- sog. Tochtergeschwulst
Zu diesem Zeitpunkt konnte der Krebs nicht mehr eingedämmt werden und hat sich innerhalb kürzester Zeit im Körper, unter anderem Lunge und Gehirn, ausgebreitet. Die Patientin starb leider bereits wenige Monate später.
Welche gesundheitlichen Folgen hatte der übersehene Tumor für die Patientin?
Die geschädigte Patientin war bis zu ihrem Tod aufgrund des Tumors sowohl psychisch als auch körperlich extrem stark beeinträchtigt.
- Infolge des bereits fortgeschrittenen Stadiums des Tumors konnte sich dieser bereits im ganzen Körper verbreiten. Das Wachstum des Tumors war zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr zu stoppen.
- Die Geschädigte musste viele krebsbedingte Krankenhausaufenthalte über sich ergehen lassen. Während dieser Krankenhausaufenthalte wurde sie mehrfach operiert (unter anderem an der Lunge) und hatte unzählige Chemotherapie Termine, die sie wahrnehmen musste.
- Die Frau litt bis zu ihrem Tod an enormen Schmerzen.
- Dazu kam, dass die Frau psychisch enorm litt. Sie musste sich langsam aber sicher auf ihren eigenen Tod einstellen und sah ihre Chancen auf eine Genesung schwinden. Die Frau hatte während ihrer letzten Lebensmonate enorme Todesangst.
Welche Behandlungsfehler waren dem Arzt vorzuwerfen?
Dem hier behandelnden Orthopäden ist ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen, indem er nicht rechtzeitig die notwendigen diagnostischen Maßnahmen ergriffen hat und dazu Befunde falsch interpretiert hat. Daraus resultiert der unerkannte Tumor.
Was ist ein Befunderhebungsfehler?
Im Arzthaftungsrecht wird zwischen verschiedenen Arten von Fehlern und Irrtümern unterschieden.
Ein Diagnoseirrtum liegt vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die gebotenen Maßnahmen ergreift. Diese Art von Irrtum setzt allerdings voraus, dass der Arzt die notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat und im Anschluss fehlerhaft gehandelt bzw. interpretiert hat.
In dem hier beschriebenen Fall ist diese Art von Irrtum nicht zutreffend, da der Orthopäde die nach dem medizinischen Standard gebotene Befunde nie erhoben oder veranlasst hat bzw. dies viel zu spät tat.
Vielmehr hat er aufgrund vorschneller und unzureichender Untersuchungen eine falsche Diagnose gestellt. Dieses Verhalten stellt einen Befunderhebungsfehler dar. Der Diagnoseirrtum knüpft erst an die unterlassene Befunderhebung an.
Worin liegt der Befunderhebungsfehler?
Der hier behandelnde Orthopäde hat in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft gehandelt:
- vorschnelle Diagnose
- Unterlassen von notwendigen Untersuchungsmaßnahmen
- Befunde zudem fehlerhaft beurteilt
Der Arzt hat hier vorschnell ohne hinreichende Grundlage die Diagnose eines Hämatoms gestellt.
Laut eigener Aussage des Orthopäden stellte sich die verstorbene Frau nämlich erstmals wegen einer Sprunggelenksverletzung bei ihm vor. Der Bluterguss im Oberschenkel steht, laut ihm, im direkten Zusammenhang mit der Verletzung. Jedoch haben alle herangezogenen Gutachter, inklusive eines privaten Gutachters seitens des Orthopäden, diesen Zusammenhang als “sehr ungewöhnlich”, “äußerst unwahrscheinlich” und “mehr als ungewöhnlich” eingestuft.
Die Erklärung des Arztes ist fernliegend und nicht plausibel und darüber hinaus ist die Diagnose des Arztes, nämlich des Blutergusses, aufgrund der Verletzung fehlerhaft.
Der Orthopäde hat hier, um Klarheit über die Schwellung zu schaffen, lediglich eine weitere Untersuchung, nämlich die Sonografie, durchgeführt. Aber auch diese Untersuchungsmaßnahme ist zwar ausreichend für die positive Annahme eines Blutergusses, aber nicht ausreichend für den Ausschluss eines Tumors.
Der orthopädische Gutachter hat deutlich gemacht, dass es zu keiner sicheren Zuordnung der Schwellung ausschließlich aufgrund eines Sonografie-Bildes kommen kann. Der Arzt hätte hier direkt eine MRT-Untersuchung veranlassen müssen, um sicherzugehen, dass kein Tumor vorliegt.
Zusammenfassend ist das Verhalten des Beklagten im Hinblick auf die Befunderhebung und -auswertung fehlerhaft.
Beweislastumkehr
Dieser Befunderhebungsfehler löst die sog. Beweislastumkehr aus.
Gut zu wissen: Die Beweislastumkehr stellt eine Ausnahme von dem rechtlichen Grundsatz dar, dass jede Partei die Beweislast für die Voraussetzungen der ihr günstigen Rechtsnorm trägt.
Nach der Rechtsprechung des BGH kommt eine solche Beweislastumkehr bei einem einfachen Befunderhebungsfehler in Betracht, wenn der Befund (welcher nicht erhoben wurde) gravierend und das Verkennen oder die Nichtreaktion daran ein grober Fehler wäre. Dass hier ein gravierender Befund erhoben worden wäre, ist mehr als eindeutig, da es sich um eine Krebsdiagnose handelt.
Laut eines onkologischen Sachverständigers hätte eine Diagnose, die einen Monat früher gestellt worden wäre, bereits einen beachtlichen Unterschied ergeben.
Sind 70.000 € Schmerzensgeld für einen unerkannten Tumor angemessen?
Das OLG Frankfurt (Aktenzeichen: 8 U 142/18) hat den Erben der Frau ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 € zugesprochen.
Welche Summe an Schmerzensgeld als angemessen anzusehen ist, hängt ausschließlich von den Umständen im Einzelfall ab. Da das Schmerzensgeld eine individuelle Entschädigung darstellt, kann man hier keine “Faustregel” anwenden.
Bei der Bemessung müssen verschiedene Faktoren, wie z.B. Alter der Geschädigten, Schwere der Verletzung, Leidensweg etc. in Betracht gezogen werden, um eine faire und angemessene Entschädigung zu finden.
Im oben beschriebenen Sachverhalt wird ein enormer Leidensweg, sowohl psychisch als auch physisch beschrieben.
- Die Frau wurde von heute auf morgen aus ihrem Leben gerissen- weg von ihrem Ehemann, ihren Kindern und Enkelkindern.
- Aufgrund der viel zu späten Diagnose musste sie sich ihren tragischen Umständen einfach ohne jegliche Möglichkeit der Besserung
- Neben den zahlreichen Eingriffen und Therapien, welche allein betrachtet schon sehr anstrengend und schmerzhaft sind, musste sich die Frau immer mehr mit dem Gedanken an ihren eigenen Tod akzeptieren
- Die Geschädigte verbrachte in ihrem letzten Jahr die meiste Zeit im Krankenhaus oder bei anderen Ärzten. Sie musste deshalb all ihre Hobbys und Freizeitaktivitäten aufgeben
- Lebensprägende Momente ihrer Enkelkinder wird sie nicht miterleben können, weil ihr bösartiger, aggressiver Krebs als ein “Bluterguss” diagnostiziert wurde.
All diese Umstände sind in der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen.
Die Höhe und Bemessung des Schmerzensgeldes liegt im sog. Ermessen der Richter. Den Richtern wird ein “Spielraum” eingeräumt, in welchem sie darüber entscheiden, wie hoch das Schmerzensgeld im Einzelfall bemessen werden soll.
Nach der Beurteilung aller Umstände empfinden wir ein Schmerzensgeld von 70.000 € als durchaus fair und angemessen in diesem Fall.
Was können Sie tun, wenn bei Ihnen oder einem Angehörigen ein Tumor übersehen oder Krebs zu spät erkannt wurde?
Der Zusammenhang zwischen fehlerhafter Behandlung und Schaden ist nicht einfach nachzuweisen. Umso wichtiger ist es, das ärztliche Fehlverhalten, wenn es einen Befunderhebungsfehler darstellt, auch als solchen darzulegen, um die Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang auf den Arzt überzuleiten. Dabei bedarf es viel Erfahrung und fachlicher Kompetenz. Einen erfahrenen Anwalt für Medizinrecht an seiner Seite zu haben, ist hier besonders wichtig. Die Kanzlei für Arzthaftung und Geburtsschaden von Rechtsanwalt Christoph Mühl verfügt über das Fachwissen und die Erfahrung aus 15 Jahren Tätigkeit für Opfer von Behandlungsfehlern. Wenn Sie Fragen zu einem Behandlungsfehler zum Thema übersehener Tumor haben, vereinbaren Sie bei uns einen unverbindlichen und kostenlosen Termin: 0611 67774342. Fachanwalt Christoph Mühl berät Sie gerne zum Thema Schmerzensgeld bei Fehlern im Bereich unerkannter Tumor, zu spät behandelter Krebs und unterlassene Befunderhebung.